Diagramme der Gegenwart

Christian Muhr, Januar 2001

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Blitzsieg eines Begriffes: Die meisten Beschreibungsversuche gegenwärtiger Kultur strapazieren die Metapher des Netzes bis zum Zerreissen. Innerhalb kürzester Zeit mutierte das Netz zum paradigmatischen Modell der post-industriellen Gesellschaft schlechthin, mit dem Anspruch, deren Bauprinzipien und Funktionsweisen in Form von "Verknüpfungen" adäquat abbilden zu können. Diese verknüpfte, vernetzte "Society of the And" (Roemer van Toorn) entwickelt sich nicht mehr durch die Dynamik apponierender Kräfte entlang der Ausschlusskriterien von "entweder/oder" sondern das "und" bildet ihren extrem leistungsstarken Motor, der unentwegt ein Gewebe von instabilen Balancen gleichermaßen gültiger Ansprüche erzeugt. Im Netz erkennt diese Gesellschaft ihr "Muster", das sich in seiner Ungerichtetheit und wechselnden Konturierung deutlich von den Entwicklungslinien klassisch "moderner" Traditionen unterscheidet. Es verblüfft nur, dass beim emphatischen Abschied vom "Masterplan" zugunsten der Vielzahl paralleler "Programme" der Begriff des Netzes meistens im Singular verwendet wird, ganz so, als würde damit wieder ein fixes Fundament hypostasiert, das doch gerade zugunsten eines fluiden Feldes von Resonanzen und Virtualitäten aufgegeben werden sollte.

Die Bilder Franz Türtschers haben diagrammatischen Charakter und befinden sich demnach schon rein formal auf der Höhe der Zeit. Das Diagramm verdankt seine jüngste Karriere, auch im Bereich der Kunst und Architektur, nicht zuletzt seiner Fähigkeit, heterogene Informationen und Interdependenzen verschiedener Parameter auf einer graphischen Ebene abzubilden. Es fungiert dabei sowohl als Instrument der Visualisierung komplexer, "vernetzter" Sachverhalte als auch als Handlungsanleitung für Entscheidungsprozesse, die nicht auf den gestalterischen Bereich beschränkt sind, wodurch sich seine weite Verbreitung, vor allem auch in den Wissenschaften, erklärt.

Das Diagramm verbindet demnach die Fähigkeit, Informationen der "dichten Bedingungen" und dynamische Verläufe darzustellen und zugleich zu ordnen. Dabei ist es immer auch das Ergebnis von Reduktionsschritten und gewinnt gerade durch diese Schematisierung seine analytische Kraft.

Franz Türtscher benutzt die Möglichkeiten des Diagramms für seine Malerei, ohne selbst Diagramme zu malen. Er organisiert seine malerischen Aussagen in Form von operativen Plattformen, die, aus einfachen geometrischen Rastern bestehend, wie eine abstrakte Maschinerie funktionieren, die in der Lage ist, Informationen zu erzeugen und zu verarbeiten, wenn der Betrachter sie in Gang gesetzt hat. Türtschers Bilder sind in diesem Sinne "selbstregulierend", ohne deshalb "autistisch" zu sein; im Gegenteil, ihr Aussagespektrum bleibt nicht auf das Bild selbst beschränkt, sondern die Texturen expandieren über die Grenzen des Bildes in den Raum und bewähren sich darüber hinaus als formalisierte Denkmodelle in der Diskussion um gesellschaftliche Bedingungen. Türtscher sieht das Bild lediglich als bevorzugte, weil unkomplizierte Kristallisationsform seiner visuellen Überlegungen, die er auch im Bereich der Architektur, der Skulptur und der Photographie realisiert.

Dabei arbeitet er mit der Rhythmisierung des Gleichförmigen und umgekehrt mit der Darstellung der Gleichgewichtsbedingungen des Vielfältigen, ohne allerdings eine Art von "ethischem Programm" zu formulieren, wie dies etwa im Umkreis von "de Stijl" oder dem "Bauhaus" der Fall war. Im Gegenteil: Türtschers Bilder der harten Kontraste und der permanenten Brüche vermitteln anstrengende Unruhe statt meditativer Stille, wobei diese nervösen Energien auch direkt körperlich spürbar sind. Die Motorik des Malers vermittelt sich über die gestischen Attacken auf die selbstgewählten orthogonalen Rasterungen, die sie angreifen, schattieren und verflüssigen. Diese Reibung zwischen Ordnung und Abweichung, Harmonie und Dissonanz, Monotonie und Varianz, Rationalität und Psychomotorik bleibt in Türtschers Bildern virulent und wird an keinem Punkt dialektisch "aufgehoben".

Seine Bilder sind Schauplätze der Konfrontation von "starken" und "schwachen" Zeichen, von stabilen und labilen Formen, von Mega- und Mikro-Skulpturen ohne Aussicht auf Versöhnung oder Überwindung. Damit formulieren sie legitime Diagramme der Gegenwart und schärfen den Blick für die Verhältnisse einer Gesellschaft, die auf dem Konstruktionsprinzip der "und" basiert. Türtschers Kunst operiert ohne "Netz" und nicht zuletzt deswegen gelingen ihr relevante Aussagen zum Status der post-industriellen Gesellschaft im Zustand der Vernetztheit.